Interview: „Besonders großen Aufholbedarf hat die Verteidigungsindustrie bei IT und Cyberabwehr“

25 November, 2019

Ein Interview mit Prof. Dr. Rainer Bernnat. Am 26. und 27. November 2019 findet zum 18. Mal die Berliner Sicherheitskonferenz statt. Sie gehört zu den größten Veranstaltungen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Der Leiter des Bereichs Öffentlicher Sektor bei PwC Deutschland, Prof. Dr. Rainer Bernnat, über die größten Herausforderungen Deutschlands im Sicherheits- und Verteidigungsumfeld.

Herr Prof. Dr. Bernnat, wie sehen Sie den aktuellen Zustand der Verteidigungsindustrie in Deutschland?

Der Zustand der Industrie ist verbesserungswürdig. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass der Sektor in den vergangenen Jahrzehnten unter dem Strich massiv desinvestiert hat.

„Das Verteidigungsbudget ist in den vergangenen fast 30 Jahren Jahr für Jahr geschrumpft. Zwar haben wir seit einiger Zeit wieder steigende Ausgaben. Doch es wird noch dauern, bis dieser politische Turnaround zu spürbaren Verbesserungen in der Industrie und bei der Bundeswehr führt. Angesichts neuer Herausforderungen ist das natürlich kritisch.“

Welche Veränderungen sind besonders relevant?

Der Sicherheits- und Verteidigungssektor muss sich umstellen; der Trend geht klar in Richtung multinationaler Plattformen. Zukünftige Waffensysteme wie das deutsch-französische Panzerprojekt „Main Ground Combat System“, um nur ein Beispiel zu nennen, sind inzwischen viel zu komplex, als dass sie von einem einzelnen Unternehmen allein hergestellt werden könnten.

Was bedeutet das für die einzelnen Unternehmen?

Dass sie kooperieren müssen, um neue Fähigkeiten im Zuge der Digitalisierung aufbauen zu können. Das ist genau wie in allen anderen Wirtschaftssektoren. Allerdings braucht es im Verteidigungssektor auch einen klaren politischen Kurs – zum Beispiel hinsichtlich der Exportpolitik. Da fehlen mitunter noch Antworten.

Grundsätzlich ist der politische Wille, bestimmte Schlüsseltechnologien in Deutschland zu behalten und auszubauen, allerdings sichtbar, oder?

Absolut, und dieser Wille ist meiner Ansicht nach auch sehr positiv. Die Bundesregierung hat sich entschieden, in der Europäischen Union eine markante strategische Rolle zu spielen.

„Der folgerichtige nächste Schritt sollte sein, dass man die an wichtigen Waffensystemen beteiligten Unternehmen und Industrien so unterstützt, dass sie lieferfähig sind.“

Und wie?

Indem die Politik bei vier Aktionsfeldern die Unternehmen noch stärker und wirkungsvoller unterstützt: bei der Stärkung von Forschung, Entwicklung und Innovation, bei der Harmonisierung von Normen und Standards, bei der aktiven Unterstützung bei der Erschließung von Exportmärkten und bei der Definition einer möglichst einheitlichen europäischen Sicherheitspolitik.

Häufig wird kritisiert, dass Beschaffungsprozesse in der Verteidigungsindustrie zu lange dauern. Was halten Sie davon, dass das Bundeswirtschaftsministerium kürzlich eine Novellierung des Beschaffungsrechts vorgeschlagen hat, die die Beschaffung beschleunigen soll?

Die geplante Novellierung des Ministeriums ist einer von mehreren Ansätzen, die helfen können, Beschaffungsprozesse zu beschleunigen und zu optimieren. Das ist ein sehr guter Schritt, ebenso wie etwa die „Sofortinitiative im Einsatz“, die eine schnellere Ausrüstungsversorgung ermöglicht. Auch wenn derzeit Vieles in die richtige Richtung geht: Insgesamt ist die Beschaffung immer noch zu unflexibel.

Verändert die Digitalisierung den Sicherheits- und Verteidigungssektor so stark wie nicht-militärische Sektoren der Industrie?

Selbstverständlich: Digitalisierung muss ein Teil der DNA der Verteidigungsindustrie werden. Nur so ist sichergestellt, dass die Unternehmen innovative, auch digitale Produkte mit kurzen Entwicklungszeiten und flexiblen, bedarfsorientierten Geschäftsmodellen auf den Markt bringen können. Auch der Aufholbedarf ist mit anderen Branchen vergleichbar: Besonders groß ist er im Segment Informationstechnik und Cyberabwehr – auch gegenüber Ländern wie den USA und Australien.

Woran liegt das Defizit?

Beispielsweise am Fachkräftemangel. Die Entscheidung der Bundesregierung von vor einigen Jahren, die Cyber/IT als eigene Teilstreitkraft der Bundeswehr zu etablieren, war richtig. Diese kümmert sich beispielsweise um die Abwehr von Cyberangriffen. Auch Initiativen wie der Cyber Innovation Hub der Bundeswehr  gehen genau in die richtige Richtung. Erfolg versprechen hier insbesondere Dual-Use-Strategien, also der Einsatz bestimmter Technologien sowohl in der Verteidigung als auch in der Privatwirtschaft. Das Potenzial ist hier allerdings noch lange nicht ausgeschöpft.

Sind in Zeiten gemeinsamer europäischer Sicherheitsinteressen nationale Verteidigungswesen überhaupt noch sinnvoll?

Auf absehbare Zeit unbedingt. Sicherlich wären fähigkeitsorientierte, internationale Kompetenzzentren der naheliegende Schritt, zumal kein europäisches Land in der Lage ist, alle benötigten Fähigkeiten selbst zu entwickeln – auch Deutschland nicht. Aber bis wir ein gemeinsames europäisches Verteidigungswesen haben, vergehen sicher noch 20 Jahre. Bis dahin ist die Übernahme einer gemeinsamen sicherheitspolitischen Verantwortung in Europa von der abgestimmten Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern abhängig – hierfür ist eine eigene und leistungsfähige Verteidigungsindustrie eine unabdingbare Voraussetzung.

Welche Rolle kann die deutsche Verteidigungsindustrie künftig in Europa spielen?

Eine starke Rolle. Schließlich ist Deutschland in Europa auch wirtschaftlich und politisch ein Schwergewicht. Bei den Verteidigungsausgaben liegt die Bundesrepublik im internationalen Vergleich weit vorn, und deutsche Unternehmen blicken bei vielen Systemen und Technologien auf eine lange Tradition zurück. Auch das europäische Gemeinschaftsprojekt Airbus gibt es inzwischen seit 50 Jahren.

„Unser Land sollte seine starke Rolle weiterhin ausfüllen, was mit vielen Initiativen derzeit auch passiert – wenngleich mitunter noch zu zaghaft.“

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