Mit dem Net-Zero Industry Act (NZIA) möchte die EU die Produktionskapazitäten für saubere Technologien in Europa deutlich steigern und die Abhängigkeit von nicht-europäischen Technologien verringern. Davon profitieren nicht nur Energie- und Klimatechnologie-Unternehmen, sondern alle Akteure in der Wertschöpfungskette.
Über Gunther Dütsch: Als Partner im Bereich Nachhaltigkeitsberatung bei PwC Deutschland arbeitet Gunther Dütsch eng mit Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen zusammen, um sie bei ihrer Net-Zero-Transformation zu begleiten. Sein Schwerpunkt liegt dabei unter anderem auf Klima- und Klimatransformationsstrategien.
Über Prof. Dr. Jürgen Peterseim: Prof. Dr. Jürgen Peterseim ist Director im Bereich Nachhaltigkeitsberatung bei PwC Deutschland. Dort unterstützt er Kunden unter anderem dabei, Strategien für Dekarbonisierung, Kreislaufwirtschaft und Wasserstoff zu entwickeln und umzusetzen.
Im Mai hat der EU-Rat den Weg für die Netto-Null-Industrie-Verordnung (Net-Zero Industry Act, kurz NZIA) freigemacht. Was ist das Ziel der Regelung?
Jürgen Peterseim: Die Verordnung soll ein harmonisiertes und zuverlässiges Umfeld schaffen, um die Herstellung von Netto-Null-Technologien wie Windkraftanlagen, Wasserstofftechnologien oder Wärmepumpen in der EU zu fördern. Das soll natürlich einerseits auf den Wandel zur Klimaneutralität einzahlen, andererseits aber auch die technologische Abhängigkeit von Staaten außerhalb der EU reduzieren. Der Plan ist, die Fertigungskapazitäten für diese Technologien bis 2030 auf mindestens 40 % des jährlichen EU-Bedarfs zu erhöhen und diese international wettbewerbsfähig zu gestalten.
Welche Maßnahmen sind dafür vorgesehen?
Gunther Dütsch: Der Gesetzgeber etabliert verschiedene Mechanismen, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei spielen etwa finanzielle Förderung und Anreize eine wichtige Rolle.
So soll beispielsweise die Net-Zero-Europe-Plattform dazu beitragen, Investitionen zu mobilisieren und die Umsetzung der Verordnung zu fördern. Die Verordnung zielt außerdem darauf ab, die Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich der sauberen Technologien zu vereinfachen und zu beschleunigen.
Peterseim: Projekte, die als entscheidend für die Erreichung der Netto-Null-Ziele gelten, werden zudem als „strategische Klimaneutralitätsprojekte“ eingestuft. Sie profitieren von schnelleren Genehmigungsfristen und erhalten prioritären Zugang zu Ressourcen.
Gehen auch neue Pflichten mit der Verordnung einher?
Peterseim: Prinzipiell müssen Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen und Beschaffungsverfahren eine Reihe von Nachhaltigkeits- und Resilienzkriterien erfüllen, um von den Vorteilen der Verordnung zu profitieren. Dies soll sicherstellen, dass nur Technologien und Projekte gefördert werden, die zur Dekarbonisierung beitragen und widerstandsfähig gegenüber externen Schocks sind.
Welche Chancen bietet die Förderung der Technologien?
Dütsch: Europäische Hersteller von Netto-Null-Technologien profitieren neben der finanziellen Förderung von einem hohen Maß an Investitionssicherheit. Sie können ihre dringend benötigten Produktionskapazitäten ausbauen und sich darauf verlassen, am Markt auf faire Wettbewerbsbedingungen und eine hohe Nachfrage zu treffen. Wenn mehr Geld in die Forschung und Entwicklung von sauberen Technologien fließt, steigt zudem die Innovationskraft. Das bringt auch Unternehmen anderer Branchen weiter, was dann wiederum auf die Transformation der gesamten Wirtschaft einzahlt. Außerdem ist zu erwarten, dass der hiesige Wettbewerb steigt und sich dadurch für viele Abnehmer auch Kostenvorteile ergeben. Nicht zuletzt macht die Verordnung die europäische Industrie resilienter, weil sie die Abhängigkeit von Akteuren außerhalb Europas reduziert.
Woher kommen die Fachkräfte, um die Produktion dieser Technologien hochzufahren?
Peterseim: Die EU sieht unter anderem vor, sogenannte Netto-Null-Industrie-Akademien einzurichten, an denen innerhalb von drei Jahren 100.000 Arbeitskräfte ausgebildet werden sollen. Darüber hinaus betreiben viele EU-Länder schon jetzt eigene Initiativen, um qualifizierte Fachkräfte für sich zu gewinnen.
Wie in anderen Branchen ist sicherlich auch hier das Zusammenspiel von Weiter- und Ausbildungsinitiativen, gezielter Zuwanderung und nicht zuletzt attraktiven Arbeitsbedingungen der Schlüssel zum Erfolg. Die NZIA kann nur die Rahmenbedingungen dafür verbessern, langfristige Lösungen müssen die Branchen selbst finden.
Wo steht Deutschland im europäischen Vergleich bei der Entwicklung von Netto-Null-Technologien?
Dütsch: Deutschland hat sich im Bereich der erneuerbaren Energien, insbesondere bei der Wind- und Solarkraft, aber auch bei industrieller Energieeffizenz als Vorreiter etabliert. Trotz dieser Fortschritte gibt es aber auch viele Herausforderungen. Der Fachkräftemangel ist und bleibt ein signifikanter Engpass, der die weitere Expansion und Innovation im Bereich der sauberen Technologien verlangsamen könnte. Es fehlen vor allem gut ausgebildete Ingenieure und Techniker, die für die Entwicklung und den Betrieb der Technologien notwendig sind.
Peterseim: Ein weiteres Problem ist die Abhängigkeit von Importen bestimmter Rohstoffe und Technologien, insbesondere bei der Batterieproduktion und anderen High-Tech-Komponenten. Hier gilt es ein möglichst heterogene Lieferantenlandschaft zu kreieren, um potenzielle Schocks zu minimieren.
Was raten Sie europäischen Unternehmen, die als Akteure am Markt für Netto-Null-Technologien aktiv sind?
Peterseim: Zum jetzigen Zeitpunkt ist es wichtig, sich detailliert mit den zukünftig stark nachgefragten Produkten, den eigenen Produktionsfähigkeiten sowie mit den verschiedenen Förderinstrumenten auseinanderzusetzen und Möglichkeiten für das eigene Geschäft zu identifizieren. Das gilt übrigens nicht nur für OEMs, sondern auch für Zulieferunternehmen.
Heißt: Potenziell können sich auch Unternehmen aus energieintensiven Branchen wie der Stahl-, Chemie- oder Zementindustrie für Förderung qualifizieren, sofern sie nachweislich in der Wertschöpfungskette für Netto-Null-Technologien mitwirken und die angesprochenen Kriterien erfüllen.
Dütsch: Abseits der Fördermöglichkeiten ist es jetzt wichtig, sich als Marktakteur in einem wachsenden Zukunftsmarkt auf einen wachsenden Wettbewerb einzustellen. Das kann beispielsweise über Investitionen in Forschung und Entwicklung oder auch verstärkte Recruiting-Maßnahmen erfolgen, um auf die zu erwartende Nachfrage vorbereitet zu sein. Der Markt wird sich mit der Verordnung wandeln, das steht fest.
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