Interview – Fachkräftemangel im Gesundheitswesen: „Wir steuern auf einen Versorgungsengpass zu“

23 Juni, 2022

Ein Interview mit Michael Burkhart und Sevilay Huesman-Koecke. Der Fachkräftemangel hat sich zur größten Bedrohung für das deutsche Gesundheitssystem entwickelt. Wie ernst ist die Lage wirklich? Wie beurteilen (potenzielle) Gesundheitsfachkräfte die Situation? Und wie können Gesundheitswesen und Politik gegensteuern?

Antworten gibt die PwC-Studie „Fachkräftemangel im Gesundheitswesen: Wenn die Pflege selbst zum Pflegefall wird“. Im Interview erklären Michael Burkhart, bis Juli 2023 Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft, und Sevilay Huesman-Koecke, bis 2022 Head of Business Development bei PwC Deutschland, wie sie die Ergebnisse bewerten.

Der Deutsche Pflegerat warnte im Herbst 2021, dass wir „sehenden Auges auf eine humanitäre Pflege-Katastrophe“ zusteuern. Die Pflege werde sich neben der Klimakrise zum Megathema der 20er-Jahre entwickeln. Halten Sie diese Einschätzung für angemessen oder übertrieben?

Michael Burkhart: Das ist keinesfalls übertrieben, im Gegenteil. Aus unserer Sicht steuern wir tatsächlich auf einen Versorgungsengpass zu, wenn es uns jetzt nicht gelingt, gegenzusteuern. Wir haben auf der Basis von Zahlen des WifOR Institute errechnet, dass im Jahr 2035 knapp 1,8 Millionen Stellen im deutschen Gesundheitswesen nicht mehr besetzt werden können, weil uns das geeignete Personal fehlt. Das entspricht einem Engpass von rund 35 Prozent. Bereits jetzt liegt die Versorgungslücke bei fast sieben Prozent.

Besonders betroffen vom Fachkräftemangel ist die Alten- und Krankenpflege, aber uns werden auch viele Ärzt:innen fehlen.

Welche Konsequenzen hat dieser Versorgungsengpass für die Praxis?

Burkhart: Wenn uns die Fachkräfte fehlen, macht sich das unmittelbar in der Qualität der medizinischen Versorgung bemerkbar. Unter hohem Zeitdruck und ständiger personeller Unterbesetzung kann die Sicherheit von Patient:innen kaum noch gewährleistet sein. Auch die Gesundheit der Angestellten leidet, wenn sich die Arbeit auf noch weniger Schultern verteilt. Die Folge dieser Überlastung wird eine weitere Abwanderung aus dem Gesundheitssektor sein, in dem wir schon jetzt eine hohe Fluktuation beobachten. Wir haben bereits vor zehn Jahren in einer Vorgängerstudie darauf hingewiesen, dass wir vor einem Personalnotstand im Gesundheitswesen stehen. Inzwischen ist wertvolle Zeit verstrichen, ohne dass sich die Rahmenbedingungen verändert hätten.

Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für den Fachkräftemangel in der Pflege und im Gesundheitswesen allgemein?

Sevilay Huesman-Koecke: Eine gravierende Ursache, die sich nicht so leicht bekämpfen lässt, ist der demografische Wandel. Er bringt mit sich, dass wir immer mehr alte, multimorbide und chronisch kranke Menschen haben, die einer intensiven medizinischen Versorgung bedürfen.

Der demografische Wandel trifft die Gesundheitsbranche doppelt, da parallel das Durchschnittsalter von Pflegenden und anderen Health Professionals steigt.

Schon heute liegt es bei 46,3 Jahren – und damit spürbar über dem branchenweiten Schnitt von 44 Jahren. Bis zum Jahr 2035 wird dieser Wert auf 51 Jahre steigen. Eine alternde Belegschaft steht also einer steigenden Arbeitsbelastung gegenüber. Darauf muss sich die Gesundheitspolitik einstellen und die Arbeitsbedingungen so gestalten, dass es Gesundheitsfachkräften möglich ist, bis zur Rente in ihrem Beruf zu arbeiten.

Was können Unternehmen der Gesundheitswirtschaft und die Gesundheitspolitik tun, um gegenzusteuern?

Huesman-Koecke: Es ist dringend notwendig, dass wir die Arbeitsbedingungen – insbesondere in der Pflege – verbessern. Derzeit sind sie gekennzeichnet durch eine schlechte personelle Besetzung, hohen Zeit- und Arbeitsdruck und viele Überstunden. All das geht zu Lasten der Versorgungsqualität und der Menschlichkeit. Unsere Studie hat gezeigt, dass Gesundheitsfachkräfte unter einer hohen körperlichen wie psychischen Belastung leiden. So sagen etwa 72 Prozent der Ärztin:innen und Beschäftigten im Pflegebereich mit leitender Funktion, dass sie ihren Beruf für körperlich anstrengend halten; 60 Prozent empfinden ihn als psychisch belastend.

Wichtige Stellschrauben zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen wären ein angemessenes Gehalt, eine gute personelle Ausstattung, Perspektiven zur Weiterentwicklung und mehr gesellschaftliche Anerkennung der Pflege.

Das Bundesgesundheitsministerium hat im Sommer 2021 das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG) beschlossen. Welchen Beitrag kann die digitale Transformation wirklich bei der Entlastung von Pflegenden leisten?

Burkhart: Richtig und konsequent eingesetzt, können digitale Technologien einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung des Personals leisten und gleichzeitig die Versorgungsqualität erhöhen. Dafür brauchen wir aber eine digitale Neuausrichtung. Derzeit beobachte ich, dass digitale Technologien zwar zur Administration eingesetzt werden, aber im Pflegealltag noch nicht angekommen sind.

Gesundheitsfachkräfte sind durchaus aufgeschlossen für intelligente Technologien, wie unsere Studie zeigt.

So sagen 62 Prozent der potenziellen Nachwuchskräfte (18- bis 29-Jährige mit Schulabschluss in den vergangenen drei Jahren, Arbeitslose und Wechselwillige mit Interesse an der Pflege), dass die Digitalisierung zur Entlastung des Arbeitsalltags und zur besseren Beobachtung von Gesundheitsdaten beitragen kann. Auch für Patient:innen und Pflegebedürftige können zum Beispiel Digitale Gesundheitsanwendungen einen echten Mehrwert bieten.

Welche weiteren Rahmenbedingungen müssten sich im Gesundheitswesen und in der Gesundheitspolitik verändern, wenn wir die drohende Versorgungskrise abwenden wollen?

Huesman-Koecke: Neben einer strategischen digitalen Ausrichtung ist es dringend notwendig, die Prävention und Gesundheitskompetenz zu stärken. Nur so können wir erreichen, dass Menschen länger gesund bleiben und sich die große Zahl chronisch kranker Patient:innen verringern lässt. In der Praxis heißt das, noch stärker als bisher in Gesundheitsaufklärung zu investieren und Bürger:innen zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil zu motivieren. Das Potenzial dazu ist groß, wie eine PwC-Studie zu den sozialen Determinanten von Gesundheit zeigt: 30 Prozent der Deutschen würden gesünder leben, wenn sie mehr über gesunde Verhaltensweisen, beispielsweise zu Bewegung und Ernährung, wüssten. Ebenso halte ich es für dringend notwendig, dass Ärzt:innen und Pflegekräfte von Dokumentations- und Bürokratiepflichten entlastet werden, damit sie wieder mehr Zeit für das Wesentliche haben: die Patientin, den Patienten.

Kann es ein gangbarer Weg sein, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben?

Burkhart: Auf jeden Fall, wir können schon heute nicht mehr auf die Unterstützung aus dem Ausland verzichten. Allein in der Altenpflege lag der Anteil von ausländischen Pflegekräften bereits im Jahr 2020 bei 15 Prozent.

Entscheidend ist aber, dass die Kräfte ausreichend qualifiziert sind und das Recruitingverfahren fair und transparent abläuft.

Einige Häuser arbeiten schon sehr erfolgreich mit Unterstützung aus dem Ausland, zum Beispiel die Berliner Charité. Offenbar scheint es in der Praxis aber einige Hürden in der Zusammenarbeit zu geben, wie unsere Studie zeigt. Als die drei größten Hürden sehen die befragten Ärzt:innen und Pflegekräfte mit leitender Tätigkeit Sprachbarrieren, Mentalitätsunterschiede und den Einarbeitungsaufwand.

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