Über den Tellerrand geschaut: Was Gesundheitssysteme anderer Länder leisten

22 Januar, 2020

Ein Interview mit Sonja Wehsely, Head of Strategy, Business Development & Government Affairs Europe, Middle East, Africa bei Siemens Healthineers, sowie den PwC-Expertinnen Corinna Friedl und Sevilay Huesman-Koecke, Initiatorinnen des Frauennetzwerks women&healthcare. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden: Auf dieser Grundlage machte sich das Frauennetzwerk women&healthcare bei seinem Treffen im November 2019 daran, die Gesundheitssysteme verschiedener Länder gegenüberzustellen.

Gut 60 Teilnehmerinnen, unter ihnen Führungskräfte aus allen Bereichen der Gesundheitswirtschaft, diskutierten bei diesem neunten Netzwerktreffen Ansätze, um das Gesundheitssystem in Deutschland für die Zukunft gut aufzustellen und die Qualitätsmarke „Gesundheitssystem Deutschland“ zu erhalten.

Lassen sich die Gesundheitssysteme in Europa überhaupt miteinander vergleichen?

Sevilay Huesman-Koecke: Es ging uns bei dem Netzwerktreffen nicht darum, ein Ranking zu erstellen, wo Menschen in Europa gesundheitlich am besten versorgt sind. Viel wichtiger war uns, das deutsche Gesundheitssystem mit seinen Stärken und Schwächen zu verorten. So etwas geht immer leichter, wenn man andere Systeme zum Vergleich heranzieht. Deswegen hatten wir am Nachmittag beim „Marktplatz“ PwC Expertinnen und Unternehmensvertreterinnen von fünf verschiedenen Ländern zu Gast. So konnten wir uns über die Best Practices aus Dänemark, Middle East, der Niederlande, Schweiz und Spanien informieren.

Corinna Friedl: Sehr aufschlussreich waren für mich auch die Impulsreferate am Vormittag. Da stand der Ländervergleich im Vordergrund. Inwieweit stimmt der Ruf, was die Qualität der Gesundheitsversorgung anbelangt, mit der persönlichen Erfahrung überein? In was unterscheiden sich Gesundheitssysteme weltweit überhaupt?

Wie schneidet Deutschland denn ab?

Sonja Wehsely: Das deutsche Gesundheitssystem gilt in Sachen Versorgungsqualität als führend. Doch dieser Ruf muss immer wieder neu bestätigt werden. Deutschland gehörte 2016 zu den 3 Industrienationen mit den höchsten Ausgaben für Gesundheit. Das ist nicht nur wegen der Kostenentwicklung im Zuge des demografischen Wandels bedenklich. Das kann auch als Hinweis gelten, dass es bei der ambulanten Versorgung und bei präventiven Angeboten Defizite gibt. In diesem Punkt besteht Handlungsbedarf. Schließlich haben die gesetzlichen Krankenversicherungen das Jahr 2019 erstmals seit langem wieder mit einem Minus von mehr als einer Milliarde Euro abgeschlossen.

Huesman-Koecke: Vor allem bei der Digitalisierung steht Deutschland denkbar schlecht da. Bei dem von der Bertelsmann-Stiftung erstellten Digital-Health-Index kommt Schweden auf einen Wert von 68,3, Spanien auf 71,4 Punkte. Damit sind diese beiden Länder führend innerhalb der EU. Deutschland erreicht dagegen nur einen Indexwert von 30 Punkten.

Was kann Deutschland von anderen Ländern lernen?

Friedl: Lohnenswert ist ein Vergleich mit Spanien. Die Menschen dort haben EU-weit die höchste Lebenserwartung. Das Land ist Vorreiter in der Digitalisierung, um Service und Qualität im Gesundheitswesen auszubauen. Die ambulante und stationäre Behandlung sind keine getrennten Welten. Grundsätzlich sind alle Bürger Mitglied der staatlichen Versicherung, können aber sich aber zusätzlich privat versichern, um direkten Zugang zu Fachärzten und privaten Kliniken zu erhalten. Interessant sind in Spanien auch regionale, steuerlich finanzierte Versorgungsmodelle wie z.B. in Madrid.

Wehsely: Über den Tellerrand zu schauen, macht immer Sinn. Von Spanien kann man zum Beispiel auch im Bereich der Digitalisierung viel lernen, insbesondere bei der Umsetzung von Standards auf regionaler Ebene. Mit ELGA hat Österreich wiederum schon seit 2015 eine übergreifende, elektronische Gesundheitsakte und -karte. Israel verwendet Algorithmen, um die ePA intensiv für Forschungszwecke zu nutzen. Und in Kanada haben sich Ferndiagnosen bereits etabliert. Allerdings ist Deutschland mit dem neu eingeführten Digitale-Versorgung-Gesetz nun einen ersten wichtigen Schritt gegangen, um die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens voranzutreiben.

Konnten Sie am Ende des Tages ein Fazit ziehen?

Friedl: Ja, durchaus. Es braucht Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen. Innovationen müssen aber nicht immer von Grund auf neu erarbeitet werden. Ein Blick über den eigenen Tellerrand kann da wichtige Impulse geben. Das sollten wir nutzen.

Huesman-Koecke: Das deutsche Gesundheitswesen profitiert derzeit noch von einem Vertrauensbonus seitens der Bevölkerung. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen zählt das System hierzulande noch zu den besten der Welt, jedoch seit 2016 mit abnehmender Tendenz. Wir müssen uns Gedanken machen, wohin die Reise langfristig gehen soll und wie wir digitale Prozesse so einsetzen, dass der Patient davon einen spürbaren Vorteil hat. Schlecht digitalisierte Prozesse sind und bleiben schlechte Prozesse. Hier darf es dann nicht heißen, dass die Digitalisierung an sich dafür verantwortlich ist. Hinzu kommt, dass die Mobilität gerade in Europa weiter zunimmt und so auch vermehrt Erfahrungen mit anderen internationalen Gesundheitssystemen gesammelt werden. Diese Entwicklung ermöglicht dann natürlich auch direkte Vergleiche mit dem eigenen Gesundheitssystem und die Erwartungen steigen an.

Unsere Expertinnen

Sevilay Huesman-Koecke

Sevilay Huesman-Koecke war bis 2022 International Director und Head of Business Development im Bereich Gesundheitswirtschaft bei PwC. Außerdem ist die Expertin Initiatorin des externen PwC-Frauennetzwerkes women&healthcare.

Corinna Friedl

Corinna Friedl ist Director Assurance Healthcare Services bei PwC. Sie verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Bereich der Prüfung und Beratung von Gesundheitsdienstleistern. Außerdem ist sie Initiatorin des externen Netzwerks women&healthcare.

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Janina Kroll

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Senior Manager, PwC Germany

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