Interview: „Der Gesundheitssektor hat die Chancen der Krise ungenutzt verstreichen lassen“

08 Februar, 2023

Ein Interview mit Michael Burkhart und Roland Werner. Wie stehen die Deutschen zu ihrem Gesundheitswesen? Wie zufrieden sind sie mit der ambulanten und stationären Versorgung? Wie bewerten sie die Arbeit der Krankenkassen, wie das Image der Pharmakonzerne? Wie beurteilen sie die Herausforderungen durch Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit oder Finanzierungsfragen? 

Einen umfassenden Einblick gibt das „Healthcare-Barometer 2023“, für das PwC erneut 1.000 Bürger:innen befragt hat. Im Interview erklären Michael Burkhart, bis Juli 2023 Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft, und Roland Werner, Pharma-Experte, wie sie die Ergebnisse einschätzen.

Zum zweiten Mal in Folge sind die Zustimmungswerte zum deutschen Gesundheitswesen gesunken. Nur noch 57 Prozent der Deutschen zählen ihr System zu den drei besten der Welt, während es im ersten Pandemiejahr 2020 noch 72 Prozent waren. Wie erklären Sie sich diesen Rückgang?

Michael Burkhart: Die COVID-19-Pandemie war eine enorme Herausforderung, aber auch eine große Chance für das deutsche Gesundheitswesen, sich zu transformieren und seine Digitalisierung voranzutreiben. Der Gesundheitssektor hat die Chancen dieser Krise weitgehend ungenutzt verstreichen lassen. Es ist ihm nicht gelungen, das Vertrauen und das hohe Zufriedenheitsniveau der Versicherten auch in der Zeit nach der Pandemie zu erhalten. Aus meiner Sicht hat Ernüchterung eingesetzt, sodass sich die Werte wieder auf das Niveau aus der Vor-Corona-Zeit eingependelt haben. Das gilt für alle Bereiche – mit einer Ausnahme: Die Krankenkassen schneiden konstant gut ab, das können wir über den gesamten Erhebungszeitraum von neun Jahren beobachten. 

Wie bewerten Sie es, dass die Krankenkassen Spitzenreiter in puncto Zufriedenheitswerte sind und alle anderen Organisationen weit hinter sich lassen?

Burkhart: Offenbar erweisen sich die Krankenkassen als ausgesprochen verlässlicher Partner der Versicherten. So bezeichnen sich 87 Prozent unserer Studienteilnehmer:innen als „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ mit deren Arbeit. Damit zählen die Krankenversicherungen zu den einzigen Institutionen im deutschen Gesundheitswesen, die derzeit keine Verluste verzeichnen müssen. Bemerkenswert finde ich auch, dass es kaum Unterschiede zwischen den privat und den gesetzlich Versicherten gibt. Lediglich in der Frage, ob die Versicherung alle relevanten Leistungen gewährt, schneiden die privaten Versicherungen besser ab.

Welche Konsequenz sollte der Gesundheitssektor daraus ziehen?

Burkhart: Ich schlage vor, dass die gesetzlichen Krankenkassen weit stärker als bisher in gesundheitspolitische Fragen einbezogen werden. Warum sollten wir das Vertrauen, das der Krankenversicherung entgegengebracht wird, nicht besser nutzen? Beispiel Impfen: Während der Pandemie haben die Krankenkassen bei diesem Thema eine untergeordnete Rolle gespielt. Wie wir jetzt in unserem Healthcare-Barometer feststellen, gibt es Bevölkerungsgruppen, die dem deutschen Gesundheitswesen ausgesprochen skeptisch gegenüberstehen. 

Vielleicht wäre das vermeidbar gewesen, wenn man die Krankenkassen stärker in die Ansprache der Versicherten eingebunden hätte. Ich plädiere dafür, die Stimme der Krankenkassen stärker zu hören, wenn es um Reformbemühungen geht – auch bei der bald anstehenden Krankenhausreform.

Die Krankenhäuser haben hingegen spürbar an Zustimmung verloren. Wie erklären Sie sich das?

Burkhart: Fragen rund um die Finanzierung und Schließung von Krankenhäusern, die Debatte um die Krankenhausreform und drei Jahre Pandemie haben sicherlich ihre Spuren hinterlassen. Diese Themen kommen allmählich auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit an. Ich denke, dass wir bei unserer Befragung im kommenden Jahr noch deutlichere Ergebnisse sehen werden.

Schon jetzt ist die Zufriedenheit mit der Versorgung in Krankenhäusern um zwölf Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr auf aktuell 51 Prozent gesunken. Innerhalb des ersten Pandemiejahres 2020 kamen die Kliniken noch auf Spitzenwerte von 72 Prozent. Auch die Zufriedenheit mit den niedergelassenen Ärzten ist leicht gesunken, allerdings nicht so spürbar wie im stationären Sektor.

Hauptkritikpunkt bei den niedergelassenen Ärzten ist, dass diese sich zu wenig Zeit nehmen. 

Bei der Impfstoff-Forschung war die deutsche Pharmabranche in den vergangenen Jahren führend – deren Innovationskraft haben die Bürger:innen durchaus anerkannt. Inzwischen sinken die Zustimmungswerte wieder. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Roland Werner: Tatsächlich stellen wir fest, dass die Pharmakonzerne einen leichten Imageverlust verkraften müssen. Derzeit sehen 31 Prozent die Unternehmen als Innovatoren, die mit ihren Produkten zur Heilung von Krankheiten beitragen. Zum Vergleich: Im ersten Pandemiejahr 2020 waren das noch 35 Prozent. Dennoch liegen die Werte spürbar über denen aus der Vor-Corona-Zeit. 

Aus meiner Sicht haben die Konzerne – ähnlich wie die meisten anderen Bereiche des deutschen Gesundheitswesens – die Chancen der Krise ungenutzt verstreichen lassen, statt offensiv für ihre Innovationskraft zu werben und Vertrauen in der Bevölkerung aufzubauen. Denn das Negativ-Image überwiegt noch immer: 55 Prozent kritisieren, dass die Unternehmen auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sind und zu Lasten der Sozialkassen wirtschaften.

Zur Innovation im Gesundheitswesen gehört auch die konsequente Nutzung von Daten für eine bessere Versorgung. Wie stehen die Bürger:innen dazu? 

Werner: Da zeichnet sich ein differenziertes Bild ab. Unter bestimmten Bedingungen erklären sich Patient:innen bereit, der elektronischen Speicherung ihrer Gesundheitsdaten zuzustimmen, etwa dann, wenn dadurch Beitragssätze reduziert werden, die Lebenserwartung durch eine bessere Gesundheitsversorgung steigt oder die Schließung eines Krankenhauses verhindert werden kann. Wenn der Nutzen größer ist als das Risiko, sind die Versicherten durchaus zur Preisgabe ihrer Informationen bereit. Umso wichtiger ist es, dass die Gesundheitspolitik weit stärker als bisher über die Chancen der Digitalisierung aufklärt. Das ist aus meiner Sicht noch viel zu wenig geschehen. 

Auch die Finanzierung von Gesundheit, insbesondere der Krankenhäuser, ist aktuell in der politischen Debatte. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat erklärt, dass er dem Aufkauf von Praxen durch Finanzinvestoren einen Riegel vorschieben will. Wie stehen die Deutschen dazu?

Burkhart: Die Bürger:innen haben auch dazu eine differenzierte Sicht und können sehr wohl unterscheiden, wann der Einsatz von Privatinvestor:innen sinnvoll ist, zum Beispiel dann, wenn sich dadurch nachweislich die medizinische Versorgung verbessert. 

Lediglich ein Viertel der Bevölkerung lehnt Finanzinvestor:innen im Gesundheitswesen gänzlich ab. Die Gesundheitspolitik ist dadurch aber nicht aus der Pflicht entlassen: Die Bürger:innen haben die Erwartung, dass die Politik aktiv steuert und begrenzt.

Neben Fragen der Finanzierung gehört auch das Thema Nachhaltigkeit zu den großen Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Ist das bei den Bürger:innen angekommen?

Burkhart: Nein – und das überrascht mich sehr angesichts der Relevanz des Themas Nachhaltigkeit in der gesellschaftlichen Debatte. 

Lediglich ein Drittel der Bürger:innen kann richtig einschätzen, dass der deutsche Gesundheitssektor mit rund fünf Prozent für mehr CO2-Emissionen verantwortlich ist als der Flugverkehr oder die Schifffahrt. Und wenn es um die Frage geht, in welche Bereiche Krankenhäuser stärker investieren sollen, fordern nur vier Prozent mehr Engagement in puncto Nachhaltigkeit.

Dabei gehören Krankenhäuser zu den energieintensivsten Sektoren im Gesundheitswesen. Auch in diesem Punkt zeigt sich, dass die Politik ihre Aufklärungspflicht vernachlässigt hat. Bei der Diskussion um eine Krankenhausreform muss das Thema ESG (Environmental Social Governance) unbedingt einbezogen werden.

Bitte verraten Sie uns Ihre Vision: Wie muss sich das deutsche Gesundheitswesen in den kommenden Jahren verändern?

Burkhart: Anders als in den vergangenen Jahren brauchen wir eine echte und umfassende Revolution – und nicht nur ein paar Reförmchen wie in den vergangenen Jahren. Ich wünsche mir, dass die Krankenkassen in diese Transformation stärker als bisher einbezogen werden. Dabei müssen wir vor allem Fragen der Finanzierung klären und Gesundheit stärker in Richtung Nachhaltigkeit ausrichten, wenn wir unser Gesundheitssystem zukunftsfähig machen wollen.

Michael Burkhart

Michael Burkhart war bis Juli 2023 Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft bei PwC Deutschland sowie Standortleiter Frankfurt. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung bei PwC. Seine Branchenexpertise umfasst das gesamte Gesundheitswesen – von Krankenhäusern über gesetzliche Krankenkassen, Pflegeheime, Diagnostikunternehmen, Medizinprodukte und Organisationen des öffentlichen Sektors.

Roland Werner

Roland Werner bringt mehr als 20 Jahre Berufserfahrung bei PwC mit und hat seinen Branchenfokus im Bereich Pharma & Lifescience. Darüber hinaus ist er Experte für Technologie und digitale Transformation mit Schwerpunkt auf der digitalen Transformation des Finanzwesens und damit verbundener Geschäftsmodelle, der Implementierung von Plattform Modellen und der Monetarisierung von Daten in digitalen Ökosystemen.

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Roland Werner

Finance Transformation Leader, PwC Germany

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