04 August, 2022
Ein Interview mit Dr. Jan Herrmann. Die digitale Transformation stellt viele Führungskräfte im Procurement vor eine echte Herausforderung. Denn Unternehmen stecken häufig die großen Budgets in Vertrieb, Marketing oder Produktentwicklung statt in den Einkauf. Wie der Einkauf auch mit kleinen Schritten große Wirkung erzielt, erklärt Dr. Jan Herrmann, Partner bei PwC Deutschland und Procurement-Experte.
Über Dr. Jan Herrmann: Dr. Jan Herrmann ist Partner bei PwC Deutschland im Bereich Procurement und Sustainable Supply Chain. Sein Schwerpunkt liegt in der Implementierung von digitalen integrierten Lösungen, wie z. B e-Procurement Suites. Er promovierte 2008 an der Universität Bielefeld im Bereich Operations Research und Supply Chain Scheduling. Herrmann verfügt über umfassende Erfahrung in der Einkaufsberatung sowie der Implementierung digitaler Lösungen wie etwa E-Procurement- und E-Sourcing-Lösungen.
Herr Dr. Herrmann, warum spielt der Einkauf bei der digitalen Transformation in vielen Unternehmen häufig eine untergeordnete Rolle?
Dr. Jan Herrmann: Der Einkauf steht vor verschiedenen Herausforderungen. Zunächst einmal wächst der Druck auf viele Chief Procurement Officers, digitale Lösungen einzuführen. Darüber hinaus aus der schier unüberschaubaren Anzahl an technischen Lösungen für E-Procurement die passende zu identifizieren und per Schnittstelle bestehende Systeme wie SAP einzubinden, ist für viele Firmen eine äußerst komplexe und zeitaufwendige Aufgabe.
Zudem ist das Budget häufig knapp. Studien der letzten Jahre zeigen, dass Unternehmen vor allem in IT, FinTech, Marketing und Sales investieren, um ihre Produkte und Leistungen weiterzuentwickeln. Der Einkauf hingegen steht beim Budget häufig an der letzten Stelle. Und laut der Prognosen für die kommenden Jahre wird sich daran auch so schnell nichts ändern.
Dabei muss der Einkauf die Digitalisierung der gesamten Supply Chain im Blick haben und sich möglichst angleichen. Großer Druck, aber kein Budget. Das hemmt den Einkauf, die großen Themen zu lösen. Dennoch gilt: Die Funktion muss sich der Transformation stellen.
Wie gelingt diese Transformation trotz der Schwierigkeiten?
Herrmann: Zunächst ist es wichtig, das Thema zu vereinfachen und den Wirkungsgrad der einzelnen Lösungen zu erhöhen. Anstatt wahllos in Systeme zu investieren, geht es darum, die große Aufgabe gezielt in kleine Abschnitte zu unterteilen, die einzelnen Abschnitte mit passenden Lösungen zu optimieren und so den gesamten Einkauf zu transformieren.
Bei PwC beispielsweise erstellen wir dafür gemeinsam mit unseren Kunden eine Prozessübersicht des Einkaufs: Im Stile eines U-Bahn-Plans bildet diese Karte alle Vorgänge und Schnittstellen ab. Ein Kernpunkt unserer Einkaufsberatung bei PwC ist der Demand-to-Pay-Prozess, damit starten wir oftmals. Sobald der gesamte Prozess des Einkaufs abgebildet ist, unterteilen wir ihn in kleinere Abschnitte.
Gemeinsam mit den Kunden identifizieren wir zudem, wo die Stärken und Schwächen des Einkaufs liegen. Diese visualisieren wir im Stile einer Heat Map. Schwache Abschnitte sind rot gefärbt, gut digitalisierte Bereiche grün. Ziel ist nun, die einzelnen Abschnitte anzugehen, Schwächen zu reduzieren und Stärken zu verbessern. So geht prozessgesteuerte Transformation.
Schwächen beseitigen oder Stärken optimieren: was ist wichtiger?
Herrmann: Bei PwC verfolgen wir durchaus den Ansatz, die Stärken weiterzuentwickeln. Grund dafür ist, dass sich eine Digitalisierung gerade bei reiferen Strukturen einfacher zu bewerkstelligen ist. Erfolgreiche Leuchtturmprojekte (Realisierung eines Business Cases) erzielen eine hohe Akzeptanz im Unternehmen und führen zu mehr Möglichkeiten, Budgets und Unterstützung für weitere Transformationen zu erhalten. Wenn ein Kunde etwa bereits über ein gutes Contract Management verfügt, helfen wir ihm dabei, Text Mining einzusetzen, um Verträge automatisch zu untersuchen und Handlungsempfehlungen zu geben, wenn es Gesetzesänderungen gibt. Oder: Wenn das Unternehmen fit im Bereich Spend Analytics ist, warum nicht den nächsten Schritt gehen und eine KI-Lösung einsetzen? Die Stärken zu fördern, führt zu frühen Erfolgserlebnissen. Das motiviert und gibt Energie für die schwierigeren Projekte. Aber: Die „roten“ Themen sind natürlich mitunter dringender, dürfen daher nicht unter den Tisch fallen.
Wie sehen konkrete Lösungen aus?
Herrmann: Oft geht es darum, die klassischen Ansätze digital weiter zu denken. Beispiel: Supplier Relationship Management (SRM). Hier lautet das nächste Level „Supplier Network Management“. Wie kann ich Lieferantenportfolios in mehreren Dimensionen (ESG, Preis, Risiko, etc.) bewerten? Wie kann ich nicht nur den Lieferanten, sondern auch die Supply Chain dahinter bewerten? Wie kann ich die Netzwerkebenen (1) direkte Supply Chain meines Lieferanten, (2) indirekte Supply Chain (also die Lieferantennetzwerke hinter meinen Lieferanten) und (3) die unbekannten Liefernetzwerke (Innovationen, effiziente Alternativen, etc.) identifizieren und berücksichtigen?
Ein weiterer konkreter Ansatz ist Robotic Process Automation (RPA). Eine RPA-Anwendung scannt zum Beispiel den E-Mail-Eingang, erkennt Auftragsbestätigungen und ordnet diese der Bestellung im ERP zu. Solche repetitiven Arbeitsschritte lassen sich mittels Texterkennung einfach automatisieren. Dies führt zu einer schnellen Digitalisierung und ermöglicht es, die freigewordene Zeit in weitere Transformationen zu investieren.
Führen lauter Einzellösungen nicht eher dazu, dass die große Transformation des Einkaufs scheitert?
Herrmann: Eben nicht. Das Gegenteil ist der Fall! Unternehmen können nicht nur die Projekte schneller umsetzen − jede Umstellung schafft auch Synergien im Gesamtkontext. Supplier Network Management, RPA und Cognitive Procurement ermöglichen etwa, ein neues Portfoliomanagement im Einkauf zu generieren. Und auch das löst einerseits neue Hebel aus und schafft zudem weitere Handlungsfelder. Die Essenz der prozessgesteuerten Transformation lautet: durch punktuelles Optimieren Schritt für Schritt eine Gesamttransformation erzielen. Der U-Bahn-Fahrplan sorgt außerdem dafür, nie die gesamte Transformation aus den Augen zu verlieren.
Das Ziel lautet, dass alle Abschnitte im grünen Bereich landen. Zudem trotzen diese niedrigschwelligen Lösungen allen genannten Drucksituationen: hohe Erwartungen des Vorstands, niedriges Budget, hohe Komplexität – die prozessgesteuerte Transformation liefert nachhaltige und gute Ergebnisse.