„Digitalisierung ist Demokratisierung“

24 September, 2021

Ein Interview mit Andreas Biehn, Paul Bomke, Michael Burkhart und Frank Schäfer. Wie kann Digitalisierung in einer Gesundheits- und Sozialeinrichtung mit zahlreichen Standorten und einer großen Belegschaft den Arbeitsalltag erleichtern? Das Pfalzklinikum, Dienstleister für seelische Gesundheit in vielen pfälzischen Regionen, hat darauf seine Antwort gefunden: ein (Video-) Kommunikationssystem, das Mitarbeitende, Klient:innen und weitere Ansprechpartner:innen vernetzt. 

Weitere Schritte der Digitalisierung sind in Planung. Im Interview erklären Geschäftsführer Paul Bomke, Projektkoordinator Andreas Biehn, Frank Schäfer, Stv. Leiter des Bereichs Betreuen-Fördern-Wohnen (Gemeindepsychiatrie) und Michael Burkhart, bis Juli 2023 Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft bei PwC, warum das Tool zu mehr Austausch und flacheren Hierarchien führt.

Der Sachverständigenrat Gesundheit forderte vor einiger Zeit, dass die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens strategisch weiterentwickelt wird – mit dem Ziel eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?

Michael Burkhart: Ich teile diese Einschätzung. Wir brauchen dringend eine konsequente Digitalisierung von Gesundheit und die bestmögliche Nutzung von Daten – zum Wohle des Patienten. Dieses Ziel erreichen wir nur mit einer ganzheitlichen strategischen Neuausrichtung. Wenn wir die bestehenden Strukturen und Prozesse unseres weitgehend noch analogen Gesundheitssystems einfach nur digitalisieren, haben wir am Ende ineffiziente digitale Strukturen und Prozesse. Die Digitalisierung eröffnet völlig neue Wege, die eine Abkehr von bestehenden Prozessen nach sich ziehen. Dazu zählen z.B. Frühindikatoren, wie die regelmäßige und automatisierte Stuhlprobe in der heimischen Toilette, individualisierte Therapie, wie ein 3D-Druck individueller Medikamente oder Zugang zu den besten Ärzten der Welt und deren Behandlung durch 5G.

Welches Potenzial birgt eine strategische Digitalisierung des Gesundheitswesens aus Ihrer Sicht?

Burkhart: Nach Schätzungen könnte unser Gesundheitswesen um 15 bis 20 Prozent effizienter sein, wenn wir digitale Lösungen einsetzten. Das zeigt etwa unsere PwC-Studie „Global top health industry issues“. Damit könnte die Digitalisierung die Antwort auf die großen Herausforderungen unseres Gesundheitswesens sein: die explodierenden Kosten, den demografischen Wandel, den Fachkräftemangel und die Urbanisierung.

Das zeigt etwa unsere PwC-Studie „Global top health industry issues“. Damit könnte die Digitalisierung die Antwort auf die großen Herausforderungen unseres Gesundheitswesens sein: die explodierenden Kosten, den demografischen Wandel, den Fachkräftemangel und die Urbanisierung.

Die COVID-19-Pandemie hat die Digitalisierung von Gesundheit bei uns zwar extrem beschleunigt, dennoch hinken wir im internationalen Vergleich immer noch weit hinterher.

Im Pfalzklinikum setzen Sie bereits ein dynamisch lernendes, digitales Tool ein: eine Kommunikationsplattform, die Mitarbeitende, Klient:innen, Angehörige und externe Ansprechpartner:innen miteinander vernetzt. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

Paul Bomke: Als Dienstleister für seelische Gesundheit setzen wir konsequent auf digitale Lösungen. Die Pandemie hat diese Entwicklung vorangetrieben. Mit Beginn der Krise brachen uns die klassischen Kommunikationswege weg, vielfach war es unseren Mitarbeitenden nicht mehr möglich, Klient:innen im direkten Kontakt zu begegnen. Daher mussten wir Prozesse mit Hilfe moderner Technologien neu denken. Was am Anfang ein „Notfallprotokoll ohne Probelauf“ war, hat sich inzwischen zum etablierten Teil unserer alltäglichen Arbeitswelt entwickelt.

Sie unterstützen Menschen im Pfalzklinikum bei der Bewältigung von Krisen und in ihrem Lebensalltag – Ihre Arbeit lebt also vor allem von sozialer Interaktion. Ist diese nicht eingeschränkt, wenn sie über digitale Plattformen kommunizieren?

Andreas Biehn: Ganz im Gegenteil, wir haben festgestellt, dass die Digitalisierung Zugangshürden eher abbaut. Das gilt gerade für jüngere Klient:innen, die sich zeitlich und örtlich flexible Angebote wünschen. Aber auch für Menschen, die beispielsweise unter einer Sozialphobie leiden, kann ein Gespräch über ein Videokommunikationssystem ein guter Einstieg sein.

Wir gestalten Begegnung – das kann im analogen ebenso wie im digitalen Raum geschehen. Letztlich kommt es ja darauf an, wie wir neue Technologien einsetzen. Wir verstehen es auch als Teil zeitgemäßer pädagogischer Arbeit, Menschen zu befähigen, digitale Technologien zu ihrem Nutzen einzusetzen.

Auch in der Belegschaft haben wir festgestellt, dass der Austausch, innerhalb der Teams und abteilungsübergreifend, stärker gefördert wird.

Wie sind Sie bei Ihrer Digitalisierungsstrategie vorgegangen? 

Frank Schäfer: Wir haben im Zuge unserer strategischen Neuausrichtung eine achtköpfige Arbeitsgemeinschaft gegründet, die sich dem Thema Digitalisierung auf den Ebenen Management, Arbeitsprozesse und Klientenorientierung widmet. Das Team ist interdisziplinär aufgestellt und bringt einen großen Erfahrungsschatz aus dem Arbeitsalltag in der Eingliederungshilfe mit. Expert:innen aus dem IT-Bereich haben wir erst in einer späteren Arbeitsphase eingebunden. Uns kommt es vor allem darauf an, die Sicht der Nutzer:innen einzubinden. 

Was sind aus Ihrer Sicht die Erfolgsfaktoren bei der Umsetzung?

Schäfer: Wichtig ist uns vor allem, die Belegschaft von Anfang an in den Transformationsprozess einzubinden und abteilungsübergreifend zu arbeiten. Nur so können wir erreichen, dass wirklich jede Nutzerin, jeder Nutzer hinter der Technologie steht. Damit die Programme in der Praxis leicht handhabbar sind, haben wir uns in Austauschforen regelmäßig Rückmeldung von Mitarbeitenden und Klient:innen geben lassen und die Softwareanwendungen entsprechend angepasst.

Eine fortlaufende Evaluierung und Anpassung im Sinne eines lernenden Systems ist wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Wenn wir die Anwendung so gestalten, dass Mitarbeitende und Klient:innen einen echten Mehrwert erkennen, können wir auch mit einer hohen Akzeptanz rechnen. Für eine stetige Evaluation setzen wir sogenannte „Digitalcafés“ ein, Sprechstunden an den einzelnen Standorten, bei denen Mitarbeitende ihr Feedback geben können.

Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag durch die Digitalisierung verändert?

Biehn: „Digitalisierung ist Demokratisierung“ im Sinne von Partizipation – das ist Teil unseres Leitbildes bei all unseren Digitalisierungsmaßnahmen. Und dieses Ziel haben wir tatsächlich erreicht: Wir stellen fest, dass der Austausch, auch einrichtungsübergreifend, leichter geworden ist, dass wir in flacheren Hierarchien arbeiten und dass wir unsere Klient:innen befähigen, ihr Leben stärker selbst zu gestalten. Wir bemerken auch, dass die Leistungsfähigkeit der Anwendung und seine leichte Bedienbarkeit kürzere Kommunikationswege schaffen. Viele Leistungen können ortsunabhängig erbracht werden – das spart Zeit und Kosten. Auch der Austausch mit externen Gesprächspartnern, beispielsweise Sozialarbeiter:innen, ist leichter geworden.

Bitte wagen Sie einen Ausblick: Welche weiteren Schritte planen Sie bei Ihrer Digitalisierungsstrategie zu gehen?

Bomke: Unser erster Schritt war die Einrichtung des (Video-) Kommunikationssystems für Mitarbeitende, Klient:innen und weitere Gesprächspartner:innen. Derzeit beschäftigt sich eine Unterarbeitsgruppe mit einem Peernetzwerk, das speziell für Klient:innen geschaffen wird und die Kommunikation untereinander, aber auch mit Angehörigen und professionellen Bezugspersonen ermöglicht. Ebenso befasst sich eine weitere Unterarbeitsgruppe mit einem interaktiven Mitarbeiterportal. Das ist allerdings noch längst nicht alles, was wir planen. Unser nächstes Ziel ist ein „Digital Workspace“, der sowohl rein digital als auch im hybriden Raum funktionieren kann. Dieser Digital Workspace soll es uns ermöglichen, dass die bestehenden Netzwerke auf einer Plattform vereint werden, also Mitarbeitendenportal, Peernetzwerk und Kommunikationstool zugleich sind. Dafür brauchen wir verlässliche Technologien. 

Denn: Ein guter Zugang ermöglicht Teilhabe. Und zur Demokratisierung gehört auch der Ausbau der Infrastruktur, sowohl an unseren Standorten als auch in den Gemeinden, in denen wir unsere Angebote organisiert werden. Derzeit denken wir mit einer Machbarkeitsstudie über den Einsatz von 5 G Campus-Netze nach. Und mit der Politik des Landes stehen wir in Sachen Digitalisierung sowohl bei unseren Angeboten im Krankenhausbereich als auch in der Gemeindepsychiatrie im engen Kontakt.

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Roland M. Werner

Roland M. Werner

Partner, Leiter Gesundheitswirtschaft & Pharma, PwC Germany

Tel.: +49 170 7628-557

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